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PARADA DE AUTOBUS

HALTESTELLEN. Sabine Freudenberger hat es unternommen, Bus-Haltestellen in einem Land der Dritten Welt, Costa Rica, mehr oder weniger systematisch, als ob es der Beginn einer Inventarisierung oder Typisierung wäre, zu dokumentieren. Was auf den ersten Blick simpel erscheint, nicht vom Aufwand, sondern vom künstlerischen Ergebnis her, erweist sich bald als erstaunlich vielfältig, poetisch und listenreich. Denn die Stille ihrer wahrlich unprätentiösen und blickkonform präsentierten Objekte bringt unseren Kopf ins Sinnieren. Wir denken über das Los der auf ein halbwegs intaktes Verkehrsnetz angewiesenen Menschen in ihrem dualen Wirtschaftssystem nach: Wieviel Schutz vor Sonne und Regen brauchen sie beim Warten? Wie oft hält hier ein öffentliches Verkehrsmittel? Wie sieht der kleine Kosmos von Zivilisation und Natur, von Leben und Tod, von Dorf und Stadt aus?

Der Mensch war schon immer unterwegs: als Sammler und Jäger, als Viehzüchter und Ackerbauer, als Händler und Krieger, als Seefahrer und Entdecker. Heute ist der moderne Mensch als Geschäftsmann, Autofahrer, Tourist oder Fotograf unterwegs. Waren früher Jagd- und Schlachtplätze, Höhlen und Zelte, Dorf- und Marktplätze, Haltestellen und Treffpunkte, sind es heute Einkaufszentren oder „Ferienparadiese“. Wie oft Man / Frau am Tag, in der Woche, im Monat, im Jahr unterwegs ist, hängt von vielem ab. Ob Schule, Beruf oder Freizeit, Familie oder ökonomische, kulturelle, politische Teilhabe am Gesellschaftsleben: Die Mobilität bedarf immer wieder der Ruhe-, Treff- und Fix-Punkte, der Haltestellen. Aufbrechen und Ankommen, auch im übertragenen Sinne, sind das eine, Warten und Ausruhen / Rasten das andere. Bewusst Halt machen vor dem ins Auge gefassten Ziel. Ein Wechselspiel von Nähe und Ferne, Vergangenheit und Zukunft. Und auch in unserem Lebenslauf, der Fülle täglicher / jährlicher Ereignisse und Zufälle, gibt es markante Zäsuren, Haltestellen: Die erste Liebe, der erste Todesfall eines nahe stehenden Menschen, der Eintritt ins Berufsleben, der Beginn des Alters, die Begegnung mit dem unausweichlichen Tod.
Wir finden uns als Betrachter der Fotografien von Sabine Freudenberger irgendwann beim Gedanken an die Ödnis unserer heimischen Bus-, U- oder S-Bahn-Haltestellen wieder. Mit ihr halten wir inne und besinnen uns auf Archetypen des Lebens:

Das Bedürfnis nach Sicherheit, Schutz und nach Schönheit, die gemischten Gefühle unserer kleinen Siege und Niederlagen, den Wechsel der Tageszeiten und des Wetters, die An- oder Abwesenheit von Gesundheit und Krankheit.

Und wo wir uns bei der Aneinanderreihung der Fotos mit ihrer scheinbaren Gleichförmigkeit vielleicht genieren, einem Anflug von Langeweile wehren zu müssen, umfängt uns sacht ein Halte(stellen)netz. Es macht sichtbar, dass Armut im „globalen“ Überlebenskampf nicht schändet und dass unser moderner Alltagskomfort auf den Kern reduzierbar ist. Er hebt unsere „westliche“ Pkw- oder PC-Vereinzelung unwiderstehlich auf. Und er schärft unser Auge für die unglaubliche Vielfalt der sinnlich wahrnehmbaren Welt.

Schade, dass die Fotografin uns die Gerüche ihrer Zwischen(aufent)halte ebenso wenig wie ihre Schweißausbrüche und Müdigkeitsattacken mitteilen konnte. Doch die Fixierung von Veränderung und Beständigkeit in ihrem Fotografieren, von Nähe und Distanz, von Ruhe und Dynamik entschädigt uns vollauf. Dass gute Kunst Bewegung braucht, beweist gerade dieses Projekt, so paradox das klingt. Machen wir uns also - mit Sabine Freudenberger - auf den Weg bis zur nächsten Haltestelle!

Dr. Jürgen Sandweg        Kurator Kunstmuseum Erlangen

 

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